Wir alle sind zerbrechlich

     


    Mit spitzer Feder …


    (Bild: zVg)

    Ich habe mir kürzlich einen edlen Diffuser bestellt, der unter anderem einen wunderschönen, gläsernen Deckel hat. Ich benötigte fast eine halbe Stunde bis ich das Paket mit der Aufschrift «Fragile – Vorsicht zerbrechlich!» ausgepackt hatte. Er war bestens geschützt durch Packpolster, Verpackungschips und Füllmaterial. Danach war er in der originalen Verkaufsverpackung eingeschweisst in eine massgeschneiderte Styropor-Schutzverpackung. Beim Auspacken ging mir folgender Gedanke durch den Kopf: Manchmal wäre es gut, wenn wir Menschen auch ein solches Schild zeigen könnten. Denn wir sind verletzliche und brüchige Wesen. Das Leben hinterlässt Spuren an uns. Risse entstehen durch Krankheiten, Enttäuschungen und Konflikte. Da braucht es nur ein unbedachtes Wort oder ein weiteres Ereignis, das uns erschüttert, und unser Inneres liegt in Scherben. Wer dort hineingreift, schneidet sich.

    Wir haben es durch die Pandemie und durch den Ukraine-Krieg erlebt, und es wird uns durch den äusserst brutalen Nahostkonflikt vielleicht wieder bewusst: Wie zerbrechlich unser ganzes Leben, unsere ganze Existenz ist. Dabei geht mir durch den Kopf, wie wenig ich in der Hand habe und kontrollieren kann. Wie anfällig unser Gesundheitssystem ist, unsere globale Wirtschaft, unser alltägliches Leben. Vieles hat sich nach Corona verändert – wir sind in einem Wandel. Die Krisen folgen neu nicht nacheinander, sondern parallel. Viele Menschen kämpfen mit einer prekären Finanzlage – alles wird teurer und es reicht einfach nicht mehr – ihre wirtschaftlichen Existenzen, die sie sich Jahre lange aufgebaut haben, zerbrechen wie Glas. Wobei es uns – im Vergleich zu anderen Ländern – immer noch sehr gut geht und wir mit einem blauen Auge davongekommen sind.

    Die Menschen im Nahen Osten oder in der Ukraine – sie spüren, wie der Boden unter ihnen wankt und alles um sie herum zerbricht. Nur Scherben bleiben übrig von ihrem «alten» Leben. Alles ist ihnen zerbrochen. Sie haben Häuser, Beruf, Familie zurückgelassen, all ihre Träume, ihre Hoffnungen, ihre Ideale sind zu Staub zerfallen. Enttäuscht und verzweifelt sind sie unterwegs, versuchen zu verstehen, suchen nach Auswegen und Perspektiven: Wie soll es denn weitergehen – nach dieser Katastrophe? Wie soll es weitergehen mit den Scherben ihres Lebens?

    Dabei kommt mir die Geschichte von den weggeworfenen Glasresten vom Autor Norbert Lechleitner in den Sinn. Während Steinmetze und Glaskünstler aus aller Welt an einer grossen Kathedrale bauen, sammelt ein Fremder Abend für Abend die weggeworfenen Bruchstücke und Glasscherben auf der Baustelle ein. Mit diesen Resten zieht er sich in seine Werkstatt zurück und arbeitet an seinem eigenen Glasfenster für die Kirche. Und dann kam der Tag, der alles ans Licht brachte: Ein Kirchenfenster von unglaublicher Schönheit, mit solch glühenden Farben, wie sie niemand zuvor gesehen hatte – prächtiger als alle anderen Fenster der Kathedrale. So einzigartig und schön ist das Fenster aus den zerbrochenen Scherben unseres Lebens. Was zerbrochen ist, kann nachher umso schöner und wertvoller sein als vorher. Es gibt Menschen, bei denen schimmert gerade durch ihre Risse das Gold ihres Inneren. Sie versuchen nicht zu verstecken, was ihnen widerfahren ist, sondern haben etwas Kostbares daraus entstehen lassen. Es gibt eine spezielle Reparaturtechnik aus Japan namens «Kintsugi». Risse in Glas, Keramik oder Porzellan werden geklebt und kunstvoll mit Goldstaub überzogen.

    Es liegt in der Natur des Lebens, dass es kein Leben, keine Biographie ohne Bruchstücke gibt. Im Vertrauen auf die göttlichen Mächte, lerne ich mit diesen unvollendeten Bausteinen zu leben, die Grenzen, die mir gesetzt werden, wahrzunehmen und positiv zu nutzen. Und so Neuland zu entdecken. Ich denke, das ist ein wichtiges Geheimnis des Lebens. Bruchstücke gehören zum Leben – und das ist auch gut so. Oder wie der französische Mathematiker, Physiker, Literat und christlicher Philosoph, Blaise Pascal einst treffend feststellte: «Es ist nicht auszudenken, was Gott aus den Bruchstücken unseres Lebens machen kann, wenn wir sie ihm ganz überlassen.» Vertrauen wir den göttlichen Mächten, lassen wir uns führen und machen wir aus unseren Bruchstücken ein zauberhaftes Glasfenster. Ich wünsche Ihnen viel Inspiration, Mut und Zuversicht beim Gestalten!

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

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